Vortrag von Prof. Karl Schmid über Leben und Werk von Rupert Ignaz Mayr

Sehr geehrte Damen und Herren!

    Wenn man über einen längst verstorbenen, aber nicht allgemein bekannten Künstler berichten soll, dann beginnt man meistens mit Datum und Ort seiner Geburt und endet mit seinem Tod und Begräbnis.
    Von dieser Schablone möchte ich heute ein wenig abweichen und Sie, verehrte Damen und Herren, gleich an jenen Ort entführen, wo Rupert Ignaz Mayr berufsbedingt die längste Zeit seines Lebens zugebracht hat, wo er in künstlerisch-musikalischer Hinsicht zweifellos seine bedeutungsvollsten Jahre erlebt hat, wo er sich in der unbestrittenen Kulturmetropole von ganz Süddeutschland befand, nämlich nach München, wo er vom 1. Oktober 1685 bis Ende Juni 1706, also fast 21 Jahre lang, in der Hofkapelle des bedeutenden bayerischen Kurfürsten Max Emanuel als Geiger und Komponist tätig war, zuletzt als „Primus Violinista”.
    Im München des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jhdts. trafen nicht nur (wie auch anderswo) Tradition und Moderne aufeinander, wo die Verfechter des Neuen und Galanten gegen die Konservativen wetterten, daß sie nach wie vor „alte, fast 100jährige Motetten” aufführten, „welche nicht mehr nach dem heutigen Geschmacke seien”, und die Vertreter der alten Kunst und Kirchenmusik den Neuerern vorwarfen, deren Werke seien ihnen „nicht anständig genug”; im München jener Zeit begegneten sich auch italienische Stilrichtungen mit französischen: da wirkten Ercole Bernabei und dann dessen Sohn Giuseppe Antonio als Hofkapellmeister und Komponisten von Kirchenmusik und Opern; da war der mit beiden Stilrichtungen vertraute Pietro Torri als Hoforganist, Kapellmeister und Opernkomponist hochgeschätzt, ebenso wie der Violinvirtuose Evaristo Felice dall’Abaco; da brachte der Konzertmeister, Kammerdiener und Kurfürstliche Rat Melchior d’Ardespin als Ballett-Komponist die neuen französischen Formen und Tänze nach München, - um nur die wichtigsten Namen jener zu nennen, die im Umkreis des Kurfürsten im wahrsten Sinne des Wortes tonangebend gewesen sind.
    Und schließlich machte Max Emanuel einen der vielseitigsten Barockkünstler, den weltoffenen Komponisten Agostino Steffani zu seinem Kammermusikdirektor und Vizekapellmeister: auch er hatte sowohl in Italien studiert als auch in Frankreich die neue, stilbildende Musik des damals europaweit berühmten J.B. Lully, Hofkapellmeister des Sonnenkönigs Ludwig XIV., kennengelernt. Und der Kurfürst selber hatte gleich in den ersten Jahren seiner Regentschaft (von 1680 an) die Hofkapelle von etwa 22 Instrumentalisten auf rund 35 Musiker erweitert, er war kein bloßer Zuhörer, sondern beherrschte das Spiel auf der Flöte, der Violine, Gambe und Laute, und ließ es sich nicht nehmen, bei Kammermusikabenden persönlich mitzuwirken, so oft es ihm möglich war.
Und mitten hinein in dieses künstlerisch geradezu faszinierende Getriebe, in diese große musikalische Welt, die sich hier für ihn auftat, kam im Herbst 1685 Rupertus Ignatius Mayr, „Shardinganus Bojus”, der Bayer aus Schärding, wie er sich selbst mehrfach bezeichnete, der bis dahin an den wohl etwas bescheideneren und stilleren Bischofshöfen von Freising, Eichstätt und Passau gewirkt hatte.
    Gleich acht Tage nach seiner Aufnahme in die Hofkapelle war München zum Schauplatz großer Feiern geworden, anläßlich der kurz vorher in Wien stattgefundenen Vermählung des wittelsbachischen Kurfürsten mit Maria Antonia, der Tochter des Habsburgerkaisers Leopold I. Die Aufführungen bei Hof, dann die großen Opern und Ballette, die ständigen kirchenmusikalischen Verpflichtungen bei Andachten, Messen und Hochämtern, die Darbietungen von Kantaten und Oratorien, die musikalischen Aufwartungen bei der Tafel, die Veranstaltung von Konzerten und die regelmäßigen Abende mit Kammermusik, - all diese Vielfalt künstlerischer Betätigung und der mit ihr verbundene hohe musikalische Anspruch ließen die vielen Jahre im Dienste des Kurfürsten zu den bedeutendsten und ereignisreichsten in seinem Leben werden.
    Daß zudem der Geiger Rupert Ignaz Mayr in diesem spannungsreichen Zentrum divergierender musikalischer Stilrichtungen als einer der ganz wenigen einheimischen Musiker auch als Komponist mit persönlicher Aussagekraft sich durchsetzen und gegen eine fast übermächtige ausländische Konkurrenz sich behaupten konnte, haben spätestens die Musikwissenschafter des 20. Jhdts. erkannt und entsprechend gewürdigt. So hat einer der profiliertesten Kenner bayerischer Musikgeschichte, der frühere Direktor der Musikabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek in München, DDr. Robert Münster, festgestellt: Rupert Ignaz Mayr war „der wohl bedeutendste deutsche Komponist am Hofe Max Emanuels” und an anderer Stelle: „Mayr gehörte zu den besten einheimischen Komponisten seiner Zeit”.
    Zu dieser hohen Einschätzung seines Werkes haben vor allem die Kompositionen seiner langjährigen Münchner Zeit beigetragen. Da sei an erster Stelle sein - wie ich meine - reichhaltigstes und kompositorisch gewichtigstes Sammelwerk „Gazophylacium musico-sacrum” genannt, in der Tat ein wahrer „Schatz geistlicher Musik”, der selbst bis heute noch weitgehend unentdeckt geblieben ist. Er besteht aus nicht weniger als 25 Motetten, die Mayr als „Primus Violinista” 1702 seinem Kurfürsten gewidmet hat. Auffallend ist dabei deren große Besetzung, nämlich vier- bis fünfstimmiger großer und kleiner Chor, Streichorchester eventuell mit Posaunen und doppelter B.c.. Hier hat Mayr unverkennbar das Kompositionsprinzip des italienischen instrumentalen Concerto grosso auf die Vokalmusik übertragen. Interessant ist dazu auch seine lateinische Vorrede „Ad Lectorem philomusum”, „An den musikliebenden Leser”. Darin wendet er sich zunächst an die Praktiker und verweist u.a. auf die Feinheiten seiner kontrapunktischen Schreibweise, die Mayr tatsächlich perfekt beherrscht hat: wie Motive und Themen imitiert, gedehnt oder verkürzt erscheinen, wie sie in Engführung oder Gegenbewegung geführt werden, und er macht auf kanonartige und fugenähnliche Stimmführung aufmerksam, auf einfachen und doppelten Kontrapunkt, daß man an vielen Stellen meinen könnte, er habe diese Kunst geradewegs bei Orlando di Lasso persönlich erlernt, bei jenem genialen Komponisten und Großmeister der Renaissance, der die Leitung der Münchner Hofkapelle allerdings gut 100 Jahre vor Mayrs Zeit innehatte.
    Daß es ihm bei diesen Kompositionen aber nicht nur um äußerliche Kunstfertigkeit bloß für Kenner zu tun war, beweist der letzte Absatz der Vorrede, in welchem er seiner Hoffnung Ausdruck gibt, daß auch fachlich weniger gebildete Zuhörer an seinen Harmonien und Modulationen, die er zu einem modernen (!) Stil kunstgerecht zusammengefügt hat, ihre Freude finden mögen. Und den Ausführenden stellt er sogar frei, die Motetten auch in geringerer Besetzung aufzuführen, wahrscheinlich in der Absicht, selbst kleineren Ensembles in der Besetzungs- und somit Kostenfrage entgegenzukommen und ihnen eine Aufführung seiner Werke leichter zu ermöglichen. Doch er vergißt nicht auf den Hinweis, daß die volle Besetzung samt den Bläsern dem Zuhörer ein noch größeres Vergnügen bereiten würde... Eines möchte ich noch festhalten: Die Herausgabe einer Auswahl aus Mayrs kirchenmusikalischem Schaffen im Band 37 der Reihe Denkmäler der Tonkunst in Bayern durch den Musikwissenschafter und Univ.Prof. Karl Gustav Fellerer war im Jahre 1936 zwar eine gewaltige Leistung, aber leider konnten von den 25 Motetten des Gazophylacium damals nur sieben aufgenommen werden. 18 weitere liegen noch im Schatzkästlein verborgen und harren ihrer Entdeckung und Wiederbelebung. Umso mehr dürfen wir uns freuen, daß uns heute zwei von den sieben Motetten dargeboten werden.
    Nun, zehn Jahre vor Gazophylacium, also 1692, hatte Rupert Ignaz Mayr seinem Dienstherrn Max Emanuel ein ganz andersgeartetes Werk gewidmet. Es ist übrigens sein einziges rein instrumentales Sammelwerk, das vollständig erhalten geblieben ist, komponiert für vier Streichinstrumente plus dem üblichen B.c., und besteht aus insgesamt 43 Tänzen, die auf sieben Suiten verteilt sind. Der etwas hintergründige Titel „Pythagorische Schmids-Füncklein” erklärt sich aus dem beigefügten Kupferstich des bedeutenden Münchner Hofmalers Joh. Andr. Wolff, auf dem er Pythagoras, den Ahnherrn unserer Intervall-Lehre zeigt, wie er - der Legende nach - in einer Schmiede auf den unterschiedlichen Klang dreier verschieden schwerer Hämmer horcht und dabei zur Erkenntnis der physikalisch-mathematischen Grundlagen und Voraussetzungen des menschlichen Harmonieempfindens gelangt. Und die bei dieser Arbeit wegsprühenden Funken setzt Mayr - wie er im Vorwort schreibt - symbolisch seinen eigenen musikalischen Einfällen gleich. Diese sieben Streichersuiten zeigen in Form und Stil (mehr oder weniger deutlich) Einflüsse der damals neuen französischen Tanzmusik, der auch Max Emanuel sehr zugeneigt war. Sie haben Mayr rasch über die Landesgrenzen hinaus bekanntgemacht und wurden selbst von einem komponierenden Zeitgenossen neidlos als Musterwerke ihrer Art gerühmt. Auch der eben erwähnte Karl Gustav Fellerer hat bereits im Jahre 1927 geschrieben: Das „französische Suitenwerk” Pythagorische Schmids-Füncklein von 1692 gehört „zu den wichtigsten und bedeutendsten Suiten-Sammlungen dieser Zeit”. Und da dieses Sammelwerk nun schon seit mehr als 15 Jahren in einem kompletten Neudruck vorliegt, werden diese Suiten auch heute wieder gern ins Programm aufgenommen und oft gespielt. Falsch ist nur die Annahme mancher Forscher, Rupert Ignaz Mayr habe dieses Sammelwerk deshalb seinem Kurfürsten aus Dankbarkeit gewidmet, weil Max Emanuel ihm vor seiner Anstellung in München einen zweijährigen Studienaufenthalt in Paris finanziert habe, wo sich Mayr beim berühmten J. B. Lully im Violinspiel perfektionieren und mit der neuesten französischen Musikrichtung sich vertraut machen sollte. Nun ist jedoch in einer Salzburger musikwissenschaftlichen Doktorarbeit aus dem Jahr 1989 zweifelsfrei nachgewiesen worden, daß es sich bei diesem Studienaufenthalt in Paris um einen erst im 20. Jhdt. entstandenen und dann jahrzehntelang publizierten Irrtum handelt, um eine glatte Verwechslung mit einem bedeutungslos gebliebenen Münchner Hofgeiger namens Dominicus Mayr. Dies soll aber die Leistungen unseres Schärdinger Komponisten keineswegs schmälern, im Gegenteil! Die Verfasserin der Dissertation, Irmgard Schmid, hat diesbezüglich treffend bemerkt: „Rupert Ignaz Mayr ... ist in Wirklichkeit über Bayerns Grenzen nie hinausgekommen. Daß er trotzdem auch fremdländische Stilistik, die er nur daheim, sozusagen aus zweiter Hand, kennenlernen konnte, einwandfrei beherrschte und seiner ganz persönlichen kompositorischen Aussage dienstbar zu machen verstand, spricht indessen umso mehr und überzeugender für seine wirklich überdurchschnittlichen musikalischen Fähigkeiten.” (Zitatende) Aber leider haben überlieferte Irrtümer manchmal ein zähes Leben. Vor nicht allzu langer Zeit erhielt ich eine CD mit dem Titel „Plaudentes Virgini. Geistliche Musik am Münchener Hof um 1700”, die erstaunlicher Weise der ORF in seiner Reihe „Edition Alte Musik” (copyright 2003) herausgebracht hat und auf der gleich ein halbes Dutzend Kompositionen von Rupert Ignaz Mayr eingespielt wurden. Im mehrsprachigen Begleitheft jedoch habe ich zu meiner nicht sehr angenehmen Überraschung noch immer die Geschichte von Max Emanuel und Mayrs Perfektionierung in Paris und Lully vorgefunden. Wahrscheinlich wird es auch im 21. Jhdt. noch jahrzehntelang dauern, bis die Biographie unseres Barockkomponisten auch in Österreich endlich fehlerfrei wiedergegeben wird. Aber, abgesehen davon, dürfen wir uns darauf freuen, daß auch heute abend eine dieser Tanzsuiten Mayrs gespielt wird.
    Wenn ich nun nochmals auf Mayrs Anstellung in München zurückkomme, so möchte ich darauf verweisen, daß sich seine schöpferische Tätigkeit nicht bloß auf die beiden genannten Sammelwerke beschränkt hat. Man darf keineswegs seine Kompositionen für das Musiktheater außer Acht lassen! Nachdem er schon früher, in seiner Eichstätter Zeit ein sogenanntes Finaldrama für das Jesuiten-Gymnasium in Regensburg vertont hatte, schrieb er in München zwischen 1692 und 1702 auch noch die Musik zu einem halben Dutzend dieser lateinischen Schulopern, und zwar für die Jesuitengymnasien in München und Neuburg/Donau sowie für das Gymnasium der Benediktiner in Freising, die dort jeweils zu Schulschluß aufgeführt wurden und daher heute auch als Finaldramen bezeichnet werden. Leider sind diese Kompositionen zur Gänze verloren gegangen.
    Aber erhalten geblieben sind erfreulicherweise alle 24 sogenannten Considerationes, die Mayr in den letzten zehn Jahren seiner Münchner Zeit in Musik gesetzt hat. Das Wort „consideratio” wird mit „Betrachtung” übersetzt, doch ist damit nicht bloß die äußere, optische Betrachtung des jeweiligen Bühnenbildes und des Handlungsablaufes gemeint. Der Zuhörer und Zuseher soll vielmehr zu einer verinnerlichten Betrachtung des gerade angesprochenen Themas angeregt werden, sozusagen zu einer geistigen Einkehr bei sich selber. Und dazu diente natürlich das von der Bühne herab eindringlich gesprochene oder gesungene Wort, unterstützt und verstärkt durch die instrumentale Begleitung. Und dazu diente selbstverständlich auch eine möglichst eindrucksvolle Gestaltung des Bühnengeschehens durch die Darsteller. Schließlich darf dabei die pädagogische Absicht nicht übersehen werden, nämlich die ganz bewußte und gewollte Einwirkung auf das Publikum, mit dem Ziel, den Zuhörer und Zuseher zu einem tugenhafteren Leben zu veranlassen. Der Textdichter sämtlicher Considerationes, Pater Franciscus Lang, war Rhetorikprofessor am Jesuitenkolleg in München und schrieb selber, daß es das Ziel seiner Arbeit sei, die Zuhörer besser, nicht gelehrter werden zu lassen. - Wenn man dann im 20. Jhdt. diese Considerationes nur als „szenische Kantaten” bezeichnet hat oder als „dramatische geistliche Kantaten” oder gar als „geistliche Operetten”, dann treffen diese Benennungen eben bei weitem nicht den ganzen Begriff „Considerationes”. Franciscus Lang selber hat sich allerdings auf eine bindende Definition des Wortes nicht festgelegt, er sprach über seine Bühnenstücke (die ja merklich kürzer waren als ein ganzes, langes Drama) von „szenischen Fragmenten” und konnte sich auch die Bezeichnung „theatralische Dialoge” oder „moralische Betrachtungen” vorstellen. - Und bezüglich der äußeren Umstände muß ich noch etwas erwähnen: Die Aufführungen waren bestimmt für die Sonntage in der Fastenzeit (was auch dazu geführt hat, die Considerationes als „Fastenmeditationen” zu bezeichnen), und man hat bewußt keine professionellen Sänger und Darsteller verpflichtet, - vielmehr waren die Ausführenden Mitglieder der Marianischen Kongregation, Gymnasiasten und Studenten, für die der Bühnenauftritt mit dem gesprochenen und gesungenen lateinischen Text gleichzeitig auch eine Übung war, um für ihren zukünftigen geistlichen Beruf die nötige Sicherheit im Auftreten vor Publikum zu erlangen. Daher erklärt sich auch die relativ kleine instrumentale Besetzung, der nicht übermäßige musikalische Schwierigkeitsgrad und die Begrenzung der Aufführungsdauer auf höchstens eine Stunde.
    Wenn wir heute abend zwar auf Kulissen und szenische Darstellung verzichten müssen, und wenn Sie, geschätzte Damen und Herren, auch die vordergründige erzieherische Absicht der Considerationes außer Acht lassen wollen, so dürfen wir uns doch auf das seltene Ereignis freuen, der konzertanten Erstaufführung eines von Mayrs Bühnenwerken in der unmittelbaren Nachbarschaft seiner Geburtsstadt beizuwohnen und seine Musik in diesem herrlichen barocken Raum der Wallfahrtskirche erleben zu können, der als idealer Rahmen für die Consideratio den Intentionen von Textdichter und Komponist gewiß voll entspricht.
    Wenn man also Rupert Ignaz Mayrs Münchner Zeit zusammenfaßt, dann kann man sagen, daß es freilich Jahre voll anstrengendster Arbeit waren, aber auch Lebensabschnitt mit einer beachtlichen künstlerischen Ernte.
    Damit sind die Jahre davor nicht leicht zu vergleichen. Freilich war er auch in Passau als Praefectus Musicae bei Bischof Sebastian Graf von Pötting gut besoldet, aber sein Wirkungskreis hatte nun einmal den kleineren Radius. Und vordem, als Violinist in Eichstätt, hatte er in Fürstbischof Marquard II. Schenck von Castell einen Gönner und Förderer seines großen Talentes gefunden. Mayrs erstes vollständig erhalten gebliebenes Sammelwerk überhaupt stammt aus jener Zeit. Es umfaßt unter dem Titel „Sacri concentus” zwölf geistliche Gesänge, komponiert für je eine Solostimme mit verschiedenster Instrumentalbegleitung. Daß er dieses Sammelwerk seinem Dienstgeber Bischof Marquard gewidmet hat, ist geradezu selbstverständlich. - Nicht selbstverständlich ist aber die Auszeichnung, die Mayr für sein Werk erhalten hat: nämlich ein kaiserliches „Privilegium impressorium”, also einen druckrechtlichen, verlags- und verkaufsrechtlichen Schutzbrief durch Kaiser Leopold I. für die Dauer von vier Jahren und mit Gültigkeit „im Hl. Röm. Reich und Unsern Erb-Königreich und Landen”, wie es in dieser Urkunde heißt: ein Beweis also für die Wertschätzung, die ihm schon in jüngeren Jahren zuteil geworden ist. Und dieser Wertschätzung erfreut sich Mayr auch in unserer Zeit, denn erst vor wenigen Jahren hat Dr. Konrad Ruhland aus Niederaltaich, ein sehr kompetenter Musikwissenschafter und zugleich ausübender Musiker, ein Spezialist für die Barockmusik gerade im bayerisch-österreichischen Kulturraum, geschrieben: „Alle diese zwölf geistlichen Konzerte oder Solo-Motetten sind Juwelen barocker Kirchenmusik mit ganz eigener Prägung.” Umso mehr freut es mich, Ihnen, verehrte Damen und Herren, mitteilen zu können, daß in wenigen Wochen dieses Sammelwerk zum erstenmal seit 1681, also nach 325 Jahren, in einer vollständigen Neuausgabe komplett vorliegen wird, ediert in einem deutschen Spezialverlag für Barockmusik. Unterstützt durch eine Reihe von Sponsoren und in Zusammenarbeit mit der Stadt Schärding besorgte die Herausgabe Frau Dr. Irmgard Schmid. - Heute abend werden uns gleich vier Gesänge aus „Sacri concentus” dargeboten und dazu noch das in Strophenform vertonte „Wehmütige Trauer-Gedicht” auf den Tod von Bischof Marquard.
    Nun, der zeitlich früheste archivarische Beleg für Mayrs berufliche Tätigkeit weist ihn 1671, also im Alter von bereits 25 Jahren, als Violinisten am Bischofshof in Freising aus. Gesichert ist auch, daß er als 21jähriger die etwa zehn Jahre ältere Anna Cäcilia Freyhammer geheiratet hat, die - so wie er selber - einer wappenführenden bürgerlichen Familie entstammte. Ihr Vater war kurfürstlicher Beamter, Anna Cäcilia selber hatte vor ihrer Ehe als Kammerdienerin der Kurfürstin Henriette Adelheid, der Mutter von Max Emanuel, eine beachtliche Stellung bei Hof, und auch in ihrer nächsten Verwandtschaft finden sich Akademiker, höhere Beamte und Musiker.
    Rupert Ignaz Mayr wurde in Schärding 1646 (möglicherweise Anfang 1647) geboren und kam ebenfalls aus einer angesehenen Kaufmanns- und Beamtenfamilie. Schon sein Vater war auch Mitglied des sogenannten „Inneren Raths”, heute würde man „Stadtrat” sagen, und einer von dessen Vettern hat ein ganzes Areal im Eichbüchl zur Errichtung eines Kapuzinerklosters zur Verfügung gestellt, aus dem dann - rund 300 Jahre später - die heutige Kneipp-Kuranstalt geworden ist. Ruperts älterer Bruder Ferdinand war übrigens 25 Jahre lang „Amtsbürgermeister” von Schärding und der andere Bruder Achaz öffentlicher Notar und Stadtschreiber in Traunstein/Obb. Zudem gibt es einige starke Anzeichen dafür, daß Stephan III. Mayr, der bedeutende Abt und Bauherr des barocken Zisterzienserklosters im nahen bayerischen Fürstenzell ein Neffe unseres Musikers gewesen ist. Daß diesem Rupert Ignaz Mayr eine wirklich profunde schulische und musikalische Ausbildung zuteil geworden ist, steht fest, - aber wo, das weiß man bis heute nicht. Und wie er von Schärding nach Freising kam, darüber kann man auch nur Vermutungen anstellen.
    Jedenfalls dürfte Rupert Ignaz Mayr in seinen frühen Freisinger Jahren nicht geahnt haben, daß er beruflich noch einmal dorthin zurückkehren würde. Aber die letzten Jahre seines langen Münchner Hofdienstes gestalteten sich zumindest finanziell immer unerfreulicher, bis schließlich seine umfangreiche musikalische Tätigkeit kriegsbedingt vollends zu Ende ging. Kurfürst Max Emanuel, einst der große Held und Sieger in den Türkenkriegen, hatte im Spanischen Erbfolgekrieg die Schlacht bei Höchstädt/Donau 1704 gegen die Truppen von Prinz Eugen und Herzog Marlborough verloren und floh nach Brüssel in seine dortige Residenz als Statthalter der Spanischen Niederlande. (Seine Rückkehr aus dem Exil, elf Jahre später, hat Mayr nicht mehr erlebt.) Bayern wurde von österreichischen Truppen besetzt, die Hofkapelle 1706 von der kaiserlichen Administration aufgelöst und die noch verbliebenen Musiker Ende Juni jenes Jahres entlassen. Aber nach aller Drangsal der letzten Jahre hatte er doch das Glück, binnen Monatsfrist wieder eine Anstellung und somit eine gesicherte Zukunft zu haben.
    Johann Franz Eckher zu Kapfing und Liechteneck war in den 1670er Jahren ein junger Domherr zu Freising und kannte sicher damals schon den nur wenig älteren Violinisten Rupert Ignaz Mayr. Aus dem ehemaligen Domherrn ist 1695 der Fürstbischof von Freising geworden und im Freisinger Benediktinertheater ist 1702 Mayrs Finaldrama „Boni amici” zur Aufführung gekommen. Es ist also durchaus realistisch anzunehmen, daß Rupert Ignaz Mayr 1706 in München nicht schicksalsergeben und untätig bis zu seiner Entlassung zugewartet, sondern sich rechtzeitig um eine Anstelllung in Freising beworben hat. Jedenfalls hat Fürstbischof Eckher die musikalische Qualifikation Mayrs richtig eingeschätzt und den 60jährigen Primus Violinista gleich als Kapellmeister zu jenem Orchester zurückberufen, als dessen Mitglied er 35 Jahre zuvor seine Laufbahn als Geiger begonnen hatte. Der Dank des neuen Kapellmeisters ließ nicht lange auf sich warten: Noch im gleichen Jahr widmete Mayr seinem neuen Dienstherrn das Sammelwerk „Psalmodia brevis”, das sein letztes bleiben sollte. Von diesen insgesamt 17 vertonten Psalmen hat übrigens erst vor wenigen Jahren Dr. Konrad Ruhland sieben Psalmen als Marienvesper in einem praktikablen Neudruck herausgegeben, und das „Magnificat” daraus wird den heutigen Abend eröffnen. Im Folgejahr, also 1707, erhob Fürstbischof Eckher seinen Hofkapellmeister zum „Hochfürstlichen Rat”. Dessen Aufgaben in führender Position waren nicht wenige: Er trug die Verantwortung für die Kirchen- und Kammermusik, hatte zu komponieren und zu dirigieren, unterrichtete Kapellknaben und Alumnen und war als Leiter der Hofmusik auch darauf bedacht, seine künstlerischen Verbindungen zu München nicht abreißen zu lassen. (Die Musikalieninventare der Hofkapelle und des Seminars zeigen sehr deutlich, wie aufgeschlossen und fortschrittlich auch der alternde Rupert Ignaz Mayr war.) Und für die Studenten des Benediktinergymnasiums schrieb er noch von 1707 - 1710 die Musik zu den jährlichen Schlußfeiern. So waren auch seine letzten Lebensjahre angefüllt mit rastloser Arbeit. 1711 jedoch scheinen seine Kräfte merklich nachgelassen zu haben. Kurz vor Weihnachten fügte er seinem Testament von 1683 noch zwei fromme Gelöbnisse hinzu. Eineinhalb Monate später, am 7. Februar 1712, starb Rupert Ignaz Mayr an einem Schlaganfall - wie es seine Witwe fünf Tage darauf niederschrieb - „eines unnverhofft und urblezlichen Todts”, und wurde mit einem großen Leichenbegängnis im Friedhof bei der Stadtpfarrkirche St. Georg bestattet.
    Anna Cäcilia hat nach kinderlos gebliebener Ehe ihren Mann noch um zwei Jahre überlebt. Ihr gemeinsamer, recht beachtenswerter Wappen-Grabstein befindet sich heute nicht mehr an der Außenmauer, sondern - gut restauriert - im Inneren der Kirche neben der Sakristeitüre. Die im Nachlaßverzeichnis angeführten Portraits von Rupert Ignaz und Anna Cäcilia Mayr sind bis heute unauffindbar geblieben.

    Meine sehr geehrten Damen und Herren, so viel ich weiß, sind noch keine 100 Jahre vergangen, seit man in München Werke von Rupert Ignaz Mayr wieder entdeckt, d.h. erstmals wieder aufgeführt hat. Die Noten dazu waren damals höchstwahrscheinlich handschriftliche Kopien der Originale aus Bibliotheksbeständen. 1935 hat, wie erwähnt, Karl Gustav Fellerer eine Auswahl aus Mayrs Kirchenmusik vorgelegt. Nach dieser Großtat, und sicher auch bedingt durch den 2. Weltkrieg, kamen erst vereinzelt 1960 in London eine Bearbeitung und dann ab 1987 in Deutschland, vorwiegend in Bayern, nach und nach Werke von Mayr in Originalfassung in Druck, darunter auch die heute auf dem Programm stehende Violinsonate, sodaß jetzt nicht nur fast seine ganze Instrumentalmusik, sondern - mit der vollständigen Neuausgabe von „Sacri concentus” - auch ein ansehnlicher Teil seiner Vokalmusik vorliegt und somit eine weitere und schnellere Verbreitung seiner Werke viel leichter möglich ist als früher.
    In seiner Geburtsstadt haben wir erstmals 1966, also vor 40 Jahren, im Rahmen der 650-Jahrfeier zur Stadterhebung Werke von Rupert Ignaz Mayr bei einer gemeinsamen Veranstaltung der Schärdinger Schulen sowie bei einem literarisch-musikalischen Festabend zur Aufführung gebracht. In den Folgejahren sind zu verschiedenen Anlässen in Schärding wie auch beim Brunnenthaler Konzertsommer immer wieder Kompositionen unseres Barockmeisters erklungen.
    Doch der heutige Abend mit einem ausschließlichen Mayr-Programm (wie er meines Wissens bisher nur einmal in München und in Freising stattgefunden haben dürfte) ist - noch dazu bei gleichzeitiger Tonaufzeichnung für eine CD! - tatsächlich eine Besonderheit und stellt - vor allem auch mit der Erstaufführung und Ersteinspielung einer Consideratio - in der Wiederbelebung, der Pflege und der Weiterverbreitung der Werke Mayrs in seiner Heimat einen absoluten Höhepunkt dar.
    Es ist mir wirklich ein Bedürfnis, - und keine Phrase! - der Intendantin des Brunnenthaler Konzertsommers, meiner Kollegin Frau Konsulentin Helene Pürmayr, für ihre jahrelange unermüdliche und so erfolgreiche Initiative herzlichst zu danken, ebenso für ihre ehrende Einladung an mich, zum 25-Jahr-Jubiläum des Brunnenthaler Konzertsommers und anläßlich der 360. Wiederkehr des Geburtsjahres von Rupert Ignaz Mayr über sein Leben und Werk zu sprechen.
    Ihnen allen, verehrte Damen und Herren, danke ich für ihre Geduld und Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen noch einen erlebnisreichen musikalischen Abend!

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